Schweiz
Gesellschaft & Politik

Alt Bundesrat Arnold Koller wird 90 – und fordert EU-Abstimmung

Der älteste alt Bundesrat: «Schweiz muss aufpassen, dass sie nicht zum Eigenbrötler wird!»

Der frühere CVP-Bundesrat Arnold Koller wird 90 und verfolgt die Politik wie eh und je. Er kämpfte 1992 für den EWR und fordert jetzt eine neue Europa-Abstimmung – und eine stärkere Armee. Zudem verrät er sein Rezept für gutes Altern.
03.09.2023, 15:46
Patrik Müller / ch media
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Arnold Koller, Bundesrat, aufgenommen im August 1998 im Sitzungszimmer des Bundesrats im Bundeshaus in Bern. (KEYSTONE/Martin Ruetschi)
Arnold Koller, aufgenommen im August 1998 im Sitzungszimmer des Bundesrats im Bundeshaus in Bern.Bild: KEYSTONE

Ein weisser VW Passat mit zweistelliger Autonummer fährt vor und hält beim Bahnhof Steinegg. Am Steuer sitzt Arnold Koller, er holt die Journalisten ab. Der frühere Militär- und Justizminister chauffiert uns zum Haus. Im Garten stellt seine Frau Erika Wasser auf den Tisch - später Appenzeller Alpenbitter. Anders als amtierende Bundesräte wollte Koller im Voraus nicht wissen, was die Fragen und Themen des Interviews sind. Nach kurzer Erklärung des Alpenpanoramas, geprägt von Säntis und Hohem Kasten, bittet er uns, Platz zu nehmen: «Beginnen wir!»

Am Dienstag werden Sie 90. Sie sind der älteste aller alt Bundesräte – ein schöner Titel!
Arnold Koller: (Lacht.) Ja. Ich bin den früheren Kolleginnen und Kollegen ein paar Jahre voraus.​

Wie feiern Sie den Geburtstag?
Schon zwei Tage vorher, diesen Sonntag, denn die Familie gehört zum werktätigen Volk. Meine jüngste Enkelin hat schon wunderschöne Tischkärtchen vorbereitet.​

Sie wirken gesund und vital.
Dem Alter entsprechend, ja. Bis 85 ging ich auf Skitouren, dann brauchte ich ein neues Knie. Nun muss ich auf Sport verzichten, auch Fussball spielen mit den Enkelkindern liegt nicht mehr drin. Aber ich darf zufrieden sein.

Was ist Ihr Rezept?
Die gute Appenzeller Luft!​

Das allein wird es kaum sein.
Tu etwas für den Kopf und für die Beine. Das hab ich mir immer vorgenommen. Gute Gesundheit ist ein Geschenk.

Jan. 01, 1987 - New Swiss Defence Minister: Arnold Koller, and Swiss Defence minister, at work. He has been elected by the parliament as Fedral Cancellor in Dec. He Predecessor Jean- Pasca Delamuraz c ...
Arnold Koller 1987 bei der Arbeit.Bild: imago stock&people

Was tun Sie für den Kopf?
Ich lese viel. Vor allem Zeitungen. Aber auch Bücher, zum Beispiel über Emmanuel Macron, eine spannende und unkonventionelle Persönlichkeit. Er ist ein Intellektueller, doch mehr und mehr sieht man, dass ihm in der EU eine Eigenschaft fehlt, die überall in der Politik zentral ist: willens und fähig sein, Mehrheiten zu schaffen.​

Ein schöner Übergang zum Thema Bundesrat …
Ich sprach von Frankreichs Präsident. Unserem Bundesrat würde ich diese Fähigkeit nicht grundsätzlich absprechen (lacht). Ich sehe die amtierenden und die früheren Bundesräte zweimal im Jahr bei den Ehemaligen-Treffen.

Worüber redet man da?
Wenig über Politik. Mehr über Sport und Alltägliches.

Sie waren, als Sie 1987 Ihr Amt antraten, zuerst Verteidigungsminister – der erste CVPler in diesem Departement. Danach kamen SVPler, und jetzt ist es mit Viola Amherd wieder ein CVP- beziehungsweise Mitte-Mitglied.
Die erste Frau! Sie macht es gut. Ein Mann hätte die Kampfjets wohl nicht im Volk durchgebracht. Zurzeit hat sie zwar mit den Panzern Ärger, aber solche Phasen erlebt jeder Bundesrat, das geht vorbei.

Sie leiteten das Militärdepartement in einer denkwürdigen Zeit: Kollaps der Sowjetunion, Abstimmung über die Abschaffung der Schweizer Armee. Was hat diese Initiative rückblickend ausgelöst?
Bei der Abstimmung im November 1989 war bereits Kaspar Villiger Departementschef, ich war dann Justizminister. Aber ich hatte das Dossier noch vorbereitet. Dass 35 Prozent für die Abschaffung der Armee stimmten, war schon ein tiefer Einschnitt. Die Armee war keine heilige Kuh mehr. Dass die Jungen das Militär hinterfragten, war auch eine Chance.​

Wurde die Chance gepackt?
Mir war schon vorher klar, dass wir die Sicherheitspolitik den neuen Gegebenheiten anpassen müssen. Ich schickte erstmals ein Detachement ins Ausland, nach Namibia. Friedenserhaltung wurde zu einer wichtigen Aufgabe der Armee.

Trotzdem stürzte die Armee nach dem Fall der Berliner Mauer in eine Sinnkrise. 30 Jahre später erleben wir einen Angriffskrieg in Europa – und die Militärbudgets steigen wieder.
«Marche arrière» ist angesagt. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat gezeigt, dass es auch heute konventionelle Bedrohungen gibt. Wahrscheinlich hat man zu viele und zu schnelle Armeereformen durchgeführt und die Bestände zu stark zurückgefahren.

Zu Ihren Zeiten waren die Bestände bei über einer halben Million, aktuell stünden am Boden noch 30'000 Soldaten zur Verfügung.
Das ist zu wenig. Wenn ich lese, was Armeechef Süssli sagt, hat man erkannt, dass es wieder in die andere Richtung gehen muss.

Viola Amherd setzt auf internationale Kooperation, etwa mit einem gemeinsamen europäischen Luftabwehrschirm. Passt das zur Schweizer Neutralität?
Aus meiner Sicht ja. Denn man muss unterscheiden zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik. Das erste muss immer gelten, das ist zwingendes Völkerrecht. Das zweite aber lässt Spielräume offen. Unsere Neutralitätspolitik sollte flexibel bleiben. Das ist auch eine Lektion aus den aktuellen Wirren um die Panzer: Das Problem liesse sich neutralitätsrechtlich lösen; im Wege steht etwas anderes, nämlich das Kriegsmaterialgesetz.

Dann werden Sie kein Freund der Neutralitätsinitiative von Christoph Blocher sein.
Die unterschreibe ich nicht. Die Verrechtlichung der Neutralität in der Verfassung wäre fatal. Die Schweiz verlöre noch weiter an Handlungsfähigkeit.

Die USA fordern von der Schweiz dezidiert, mehr für die Ukraine zu tun, insbesondere bei russischen Oligarchengeldern. Erinnert Sie das an den US-Druck bei den nachrichtenlosen Konti in den 1990er-Jahren?
Ein gutes Lehrstück. Ich finde keineswegs, dass wir uns verbiegen und anpassen müssen. Die Schweiz muss ihren eigenen Weg gehen, peinlich genau das Neutralitätsrecht einhalten - aber sich nicht unnötig auf politischem Weg selbst Steine in den Weg legen. Dann entstehen gar keine solche Angriffsflächen wie jetzt und damals bei den nachrichtenlosen Konti.

CAPTION ADDITION: ERGAENZT PERSON LINKS - Alt-Bundesraetin Ruth Metzler-Arnold, die Alt Bundesraete Johann Schneider-Ammann, Christoph Blocher und Arnold Koller, von links, sprechen vor der reformiert ...
Alt-Bundesrätin Ruth Metzler-Arnold, die Alt Bundesräte Johann Schneider-Ammann, Christoph Blocher und Arnold Koller, von links, sprechen vor der reformierten Kirche Zumikon anlässlich des Gedenkgottesdienstes zum Hinschied von alt Bundesrätin Elisabeth Kopp, aufgenommen am Mittwoch, 3. Mai 2023 in Zumikon.Bild: keystone

Christoph Blocher ist auch alt Bundesrat. Im Gegensatz zu ihm nehmen Sie seit Ihrem Rücktritt keinen Einfluss mehr auf Ihre Partei.
Manchmal musste ich mir aber auf die Zunge beissen …

Wann denn?
Etwa als es um die Umbenennung der CVP in Mitte-Partei ging. Für meine Generation ist das schwierig, aber ich habe den Eindruck, bei den Jungen und in den Agglomerationen könnte die neue Marke funktionieren. Ich hoffe es.

Wenn Sie auf die Schweiz im Jahr 2023 blicken, was sehen Sie für ein Land?
Ich fange mit dem Positiven an.

Nur zu.
Die Schweiz ist in hohem Grad leistungsfähig und wirtschaftlich stark. Meiner Meinung nach nicht wegen der Politik, sondern wegen der Schweizerinnen und Schweizer, die tüchtige und engagierte Leute sind. Politisch hingegen mache ich mir einige Sorgen.

Worüber?
Die Schweiz muss aufpassen, dass sie nicht zum Eigenbrötler wird. Die Neutralität ist international schwer zu vermitteln, und vor allem kommen wir mit der EU nicht weiter. Wir brauchen mit der EU stabile Verhältnisse, um die wirtschaftliche Stärke und auch den Forschungs- und Bildungsstandort zu erhalten.

Abstiegs- und Isolationsängste gab es schon 1992, beim Nein zum EWR-Beitritt, doch es kam nicht so, wie Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz prophezeite: Er befürchtete, die Arbeitslosigkeit könnte auf 20 Prozent steigen.
Ich war mit Prognosen immer vorsichtig, auch beim EWR, für den ich mich damals eingesetzt habe. Einige Jahre nach dem EWR-Nein wurde ich oft auf der Strasse angesprochen: «Du hast wahrscheinlich beim EWR schon recht gehabt.» Im Appenzellerland duzt man sich ja. Ich bin heute noch überzeugt, wir hätten uns mit einem Ja vieles erspart. Der EWR war eine massgeschneiderte Schweizer Lösung.

50.3 Prozent stimmten damals Nein, und der Bundesrat hat seither Angst, mit Europa-Vorlagen vors Volk zu gehen.
Ein Fehler, auch in demokratischer Hinsicht! Wann bekommt unser Volk wieder einmal die Gelegenheit, zu diesem Thema seine Meinung zu äussern? Es wird ausgeschlossen, obwohl Europa das wichtigste Zukunftsthema ist, das wir in unseren eigenen Händen haben. Wollen wir nochmals 20 Jahre verhandeln, bis es so weit ist? Entschuldigen Sie, wenn ich es nicht so vornehm formuliere …

Mit 90 sind Sie freier denn je, Ihre Meinung klar zu sagen.
Der Bundesrat kann doch nicht im Alleingang, sogar ohne Parlament, einen Übungsabbruch beim Rahmenabkommen beschliessen. Leider fehlt ein institutionelles Gedächtnis. Den Abgang von Chefunterhändlerin Livia Leu fand ich auch schlecht. Ihr Ansatz – ein Paket mit konkreten Inhalten zu schnüren – war nämlich richtig und nicht so abstrakt wie das Rahmenabkommen.

Livia Leu, Staatssekretaerin EDA und Chefunterhaendlerin fuer die Gespraeche mit der EU, spricht waehrend einem Point de Presse zu Journalisten, am Mittwoch, 10. Mai 2023 im Bundeshaus in Bern. Livia  ...
Arnold Koller bedauert den Abgang der Chefunterhändlerin Livia Leu.Bild: keystone

Diese Kritik fällt auf Aussenminister Ignazio Cassis zurück.
Nein, der gesamte Bundesrat steht in der Pflicht. Mir scheint, man liess Cassis allein und die anderen foutierten sich weitgehend um das schwierige Dossier. Wir haben damals beim EWR auch gemeinsam gekämpft – im Wissen, dass es trotzdem schiefgehen kann. Ohne politische Führung geht es nicht.

Nun möchte ich noch ein paar grosse Fragen stellen, die Ihre Weisheit erfordern ...
Bitte.

Ihr Rat an junge Leute: Worauf kommt es im Leben an?
Sich selber treu bleiben. Das bedingt allerdings, dass man sich findet.

Ihr Rat an ältere Leute?
Neugierig bleiben.

Was macht Politik erfolgreich?
Suchen und finden von guten Kompromissen.

Kompromisse sind in Verruf geraten.
Zu Unrecht. Kompromisse sind gut, wenn sie einen qualitativen Sprung bringen und nicht nur quantitativ geprägt sind. Einfach 50 Prozent von dieser und 50 Prozent von jener Seite, das ist kein guter Kompromiss. In meiner Amtszeit waren für mich die Kompromisse beim Gleichstellungsgesetz und bei der Geldwäschereistrafnorm prägend.

Nächste grosse Frage: Bleibt die Schweiz ein Paradies oder verlieren wir an Terrain?
Ich bin Optimist. Weil in diesem Land die Leute viel arbeiten und engagiert sind, auch die junge Generation. Das ist das Wichtigste für das Wohlergehen. Aber eben, wir müssen mit Europa eine Lösung finden!

Die SVP warnt vor einer 10-Millionen-Schweiz. Ist das Wachstum ein Problem?
Schauen Sie, Appenzell Innerrhoden zählte 13'000 Einwohner, als ich in die Politik einstieg. Damals fürchteten wir, dass wegen der Abwanderung die Zahl unter 10'000 fallen könnte. Heute haben wir 16'000 Einwohner, sind wirtschaftlich stark - und ein Geberkanton. Die Schweiz ist nicht Appenzell, aber das Prinzip ist dasselbe. Attraktivität bringt Wachstum, und umgekehrt.

Ist es ein Problem, dass in den USA zwei 80-Jährige die Präsidentschaft unter sich ausmachen?
Ich erfahre es ja selber: Die Leistungsfähigkeit nimmt ab, ich brauche für alles mehr Zeit. Es ist keine gute Idee, bis ins hohe Alter in Spitzenämtern zu sein. Dass in Amerika offenbar niemand Biden und Trump Paroli bieten kann, bereitet mir Sorgen.

Der älteste Schweizer alt Bundesrat übertrifft den US-Präsidenten nur um zehn Jahre!
Nicht nur ich, die Bevölkerung wird insgesamt älter. Meine Ärztin hat einen 100-jährigen Patienten.

Wollen wir gleich die nächsten Interviewtermine vereinbaren, zu Ihrem 95. und 100. Geburtstag?
(Lacht.) Ob es wünschbar ist, sehr alt zu werden – da bin ich mir gar nicht so sicher. Ich nehme es, wie es kommt. (bzbasel.ch)

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29 Kommentare
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John H.
03.09.2023 16:24registriert April 2019
"Die Schweiz muss aufpassen, dass sie nicht zum Eigenbrötler wird. Die Neutralität ist international schwer zu vermitteln, und vor allem kommen wir mit der EU nicht weiter. Wir brauchen mit der EU stabile Verhältnisse, um die wirtschaftliche Stärke und auch den Forschungs- und Bildungsstandort zu erhalten."
Danke!, Herr Koller, dass wir da einer Meinung sind, das versöhnt mich mit ihnen.
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Epignosi
03.09.2023 18:16registriert Mai 2016
Damals, anfangs der 1990er war ich ziemlich stark in Projekte der ESA involviert. Nach dem EWR-Nein, kam es schlimmer, als es Alt-BR in Erinnerung hat. An fordester Front spürt man immer stärker was los ist, auch wenn es weiter hinten ruhiger zu sein scheint. Das EWR-Nein, hat der Schweiz 10 Jahre Rückstand beschert. 10 Jahre, die in vielen Bereichen immer noch nicht aufgeholt wurden!
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Hans Jürg
03.09.2023 18:24registriert Januar 2015
Und wenn das ein Appenzeller sagt, dann bedeutet dad etwas. Wenn die Schweiz noch eigenbrötlerischer ist, als die Appenzeller, dann gute Nacht.
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